Garmisch-Partenkirchen - Er ist der größte Exot bei der Ski-WM: Jean-Pierre Roy kommt aus Haiti, ist bereits Großvater - und stand vor acht Jahren das erste Mal auf Skiern.
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Für die WM hat Jean-Pierre Roy Autogrammkarten anfertigen lassen.
Jean-Pierre Roy hatte sich ganz auf die deutsche Gründlichkeit verlassen. Vor der Eröffnungsfeier sei ihm versichert worden: „Wir kümmern uns um alles.“ Doch im Skistadion von Garmisch-Partenkirchen musste der 47-Jährige die Feststellung machen, dass das wichtigste Requisit für den Einmarsch der Nationen fehlte: die Fahne Haitis. Doch Roy wusste sich zu helfen. In seinem Rucksack hatte er noch ein Fähnchen verstaut. Das putzige Ding wedelnd repräsentierte der Hobby-Skifahrer die Karibik-Insel.
Naturgemäß ist Jean-Pierre Roy ohne große sportliche Ziele ins Werdenfelser Land gereist. Vielmehr weist ihn seine Vita als ein Paradebeispiel eines – bei sportlichen Großveranstaltungen so beliebten – Exoten aus. Mit 39 Jahren stand er erstmals auf Skiern; nun, acht Jahre später, tritt er bei Welttitelkämpfen an. Und das als allererster Großvater überhaupt; seine Enkel sind neun und zwei Jahre alt.
Opa Roy hat aber auch noch eine Mission mit im Gepäck: „Ich will zeigen, dass Haiti mehr ist als Elend, Korruption, Cholera und Tod.“ In seinem Heimatland waren bei einem Erdbeben im Januar 2010 über 300 000 Menschen ums Leben gekommen, immer noch haben Hunderttausende kein Dach über dem Kopf. Roy ist nun als ein Haitianer angetreten, der vor allem eines zum Ausdruck bringen will: Lebensfreude.
Geboren wurde Roy in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis. Gerade mal zwei Jahre war Jean-Pierre alt, als bewaffnete Männer ins Haus seiner Eltern eindrangen. Sie suchten seinen Großvater, der sich als Journalist kritisch mit der Regierung auseinandergesetzt hatte. Die Familie Roy flüchtete daraufhin mit einem Boot in Richtung Frankreich. Gerade noch rechtzeitig. Die abenteuerliche Fahrt über den Atlantik dauerte zwei Wochen.
Heute lebt Roy mit einer doppelten Staatsbürgerschaft in einem Pariser Vorort, hat sich als Informatikspezialist mit einem 20-Mann-Unternehmen selbstständig gemacht und schickt regelmäßig Geld an die Familie. In seiner Heimat werden in der kalten Jahreszeit immer noch 20 Grad plus gemessen. Schnee ist da kein Thema. Anders in den großen Skigebieten in Frankreich. Vor acht Jahren hat sich dann Roy ein Herz genommen, stellte sich erstmals auf zwei schmale Bretter. Und als er dann sechs Jahre später bei der alpinen WM in Val d’Isere als Zuschauer an der Piste stand, erwachte in ihm der Ehrgeiz.
Roy sah Exoten, die sich im Riesenslalom der Damen auf wackligen Beinen die eisige Piste hinab wagten. Ein Freund fragte damals: „Machen wir das auch?“ Roy erwiderte: „Klar machen wir das.“ Roy ist inzwischen nicht nur Skifahrer, sondern auch gleichzeitig der Präsident des haitianischen Skiverbands, den er kurzerhand gegründet hat.
Muss ja alles seine Ordnung haben. Drei Mann brauchte er dafür. Deshalb ist Roys einer Cousin jetzt für das Sekretariat des haitianischen Skiverbands zuständig, der andere für die Finanzfragen. Die obligatorischen Rennen des Skiweltverbandes FIS hat Roy ebenso gemeistert. Das Okay der FIS für die WM-Teilnahme kam am 6. November. „Mein großes Datum“, wie Roy meint. Von da an war klar: „Shit, ich muss das jetzt machen.“
Auf dem Programm stand fortan: Trockenübungen auf dem Ergometer, am Wochenende raus in die Berge. Sein Niveau umreißt er mit den Worten: „Weniger als ein professioneller Skitrainer.“ 20 Tage Vorbereitung gegen 20 Jahre Erfahrung. So lautet für ihn die Herausforderung, wenn er in Garmisch-Partenkirchen im Slalom und Riesenslalom startet.
Als die Verwandten ihm eine Zeitung aus dem Heimatland schickten und dort im letzten Satz stand: „Go Jean-Paul, Haiti ist stolz auf dich“, packte ihn die Rührung: „Da sind mir die Tränen gekommen.“ 10 000 Euro hat er aus eigener Kasse für den großen Traum investiert. Jetzt ist er hier. Er mag das Essen, die Landschaft, die Mentalität, sagt er. Doch mit seinem späten WM-Debüt ist seine Mission noch nicht zu Ende. Die Winterspiele in Sotschi sind sein großes Ziel. Da will er wiederkommen. Mit einem ganzen Team. Und dann hoffentlich eine größere Fahne schwenken.
Katharina Blum