Sport, 09.02.2011, Thomas Lelgemann
Ski-Opa Jean-Pierre Roy.
Garmisch Ein Exot will in Garmisch-Partenkirchen Ski-Geschichte schreiben: Jean-Pierre Roy kommt aus Haiti und ist mit 47 Jahren der erste Großvater, der bei einer alpinen Ski-WM starten wird.
. Hunderte Ski-Fans hatten sich am Dienstagabend vor dem Kurhaus von Garmisch-Partenkirchen versammelt, um nicht den Moment zu verpassen, wenn die ersten Medaillengewinnerinnen der WM über den fein ausgelegten roten Teppich zur Siegerehrung schreiten.
Einen Platz in der ersten Reihe der neugierigen Zaungäste hatte sich ein breitschultriger Mann im roten Anorak gesichert. Die Leute um ihn herum wussten nicht, dass sie neben einem WM-Teilnehmer stehen. Einer, der in Garmisch-Partenkirchen Ski-Geschichte schreiben wird: Jean-Pierre Roy ist mit 47 Jahren alles andere als ein Nachwuchs-Talent, er kommt aus Haiti und ist der erste Großvater, der bei einer alpinen Ski-WM starten wird. „Ich will die WM-Tage an diesem schönen Ort genießen. Deshalb schaue ich mir auch die Siegerehrung an“, sagt Roy in französischer Sprache.
Aber der Haitianer ist nicht nur aus Spaß bei der WM dabei. Er will im Werdenfelser Land eine Mission für seine Heimat erfüllen, die weit über die Zugspitz-Region hinausgeht. Roy hofft auf einen Aha-Effekt durch seinen Auftritt bei der WM. „Ich möchte, dass die Leute im Ski-Stadion und vor den Fernsehgeräten sagen. He, da fährt ja einer aus Haiti mit“, erzählt er, „mein Ziel ist es, dass man durch mich auch mal wieder Bilder von Menschen aus Haiti sieht, die nicht von Not, Elend, Armut und Krankheit geprägt sind.“
Gleichzeitig will der Exot unter den Exoten aber auch, dass die Welt nicht die schwierigen Verhältnisse in seiner Heimat nach dem schrecklichen Erdbeben der Stärke von 7,3 am 12. Januar 2010 vergisst. „So lange die Situation sich nicht normalisiert, müssen wir die in den ersten Tagen entstandene Solidarität mit den Opfern in Haiti wach halten und die Haitianer beim Wiederaufbau ihres Landes unterstützen“, sagt Roy, der zu Spenden für die Opfer aufruft. Der Informatiker hat selbst mit den grausamen Folgen des Erdbebens und der Cholera zu kämpfen: „Ich habe 17 Familienmitglieder und Freunde verloren.“
Einige Tage nach dem Erdbeben hat sich Roy an eine Wette mit Freunden erinnert. Als er vor zwei Jahren bei der Ski-WM im französischen Val d’Isère zuschaute, wettete er – mehr im Scherz als im Ernst – er würde auch mal bei einer WM die Hänge herunter schwingen. Nach der Naturkatastrophe überlegte er sich, er könne aus dieser Wette eine Mission machen.
Skifahren hat der Haitianer, der im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie der Diktatur von Francois „Papa Doc“ Duvalier nach Frankreich geflohen war, in den französischen Alpen erlernt. Aber wie soll ein Großvater und Hobby-Skifahrer, der ein IT-Unternehmen mit zwölf Angestellten in Paris führt, zu einer WM-Teilnahme kommen?
Jean-Pierre Roy ging das Projekt Schritt für Schritt an. Als erstes flog er nach Haiti, besorgte sich die Genehmigung des Staates, einen Ski-Verband zu gründen. Er ist immer noch das einzige Mitglied. Die nächste Hürde war schwerer zu überwinden. Um an einer WM teilnehmen zu können, muss man sich in Rennen des Internationalen Ski-Verbandes (Fis) Punkte durch Platzierungen erkämpfen. „Mein Freund Thierry steht etwas besser auf dem Ski. Deshalb habe ich ihn zu meinem Trainer gemacht“, erinnert er sich mit einem Schmunzeln. Da er wegen seiner beruflichen Verpflichtungen nur an höchsten 20 Tagen zum Skifahren in die Alpen reisen kann, kaufte er sich ein Trockenübungsgerät, auf dem er in seiner Garage die Schwünge imitieren und trainieren kann.
Das unkonventionelle Programm mit dem ungewöhnlichen Trainer führte zum Erfolg. Erst fuhr Roy mit der Startnummer 92 bei einem Slalom-Rennen der Fis in Val Thorens auf Platz 25, dann sammelte er die fehlenden Fis-Punkte für die WM-Teilnahme in Chamonix. „Und jetzt bin ich hier in Garmisch“, sagt Jean-Pierre Roy, der in der kommenden WM-Woche im Slalom und Riesenslalom die Qualifikation für die Hauptrennen überstehen will.
Für seine Enkel – und vor allem für seine vom Leid geplagte Heimat.