Badische Zeitung

13/02/2011

"Haiti ist mehr als Elend, Korruption und Cholera"

Jean-Pierre Roy hat beschlossen, Skirennfahrer zu werden – und als solcher startet er für das geschundenen Land in der Karibik.

  1. JP

    Jean-Pierre Roy Foto: JAN KALIBA

GARMISCH-PARTENKIRCHEN. Jean-Pierre Roy steht am Ziel der Kandahar-Abfahrt von Garmisch, kriegt aber gar nichts mit vom Abfahrtslauf der Männer. Der 47-Jährige schaut nicht hoch zum Berg, wo die Rennfahrer mit weit mehr als 100 Stundenkilometern über den Freien Fall springen. Und er sieht auch nicht hin, als einige der Athleten beim Zieleinlauf in die Schutzwand stürzen, weil ihnen die Kraft ausgegangen ist. Roy, der Mann mit den freundlichen Augen, will lieber über Haiti reden. Der Grund wiederum, warum alle mit ihm reden wollen und sich seine Berichte über Haiti anhören, ist, dass der 47-jährige Hobbyskifahrer, der bereits zwei Enkelkinder hat, am Freitag beim Riesenslalom womöglich ebenfalls die Kandahar herunter fahren wird.

Die Idee, als Rennfahrer bei einem Großereignis teilzunehmen, entstand vor zwei Jahren während der Ski-WM im französischen Val d'Isère. "Warum machst du nicht mal für Haiti mit? Du kommst doch von dort", meinte ein Freund. Roy ist in Haiti zur Welt gekommen, als kleines Kind floh er allerdings mit seiner Familie vor dem Regime des damaligen Diktator Francois Duvalier. Die Bootsfahrt über den Atlantik dauerte Wochen. Seither lebt Roy in Paris, wo er seit ein paar Jahren ein kleines Computerunternehmen betreibt. Er hat das Elend von Haiti hinter sich gelassen, aber ein Besuch dort hat ihn vor ein paar Monaten wieder extrem erschüttert. Ein Jahr nach dem schweren Erdbeben, bei dem Hunderttausende ums Leben kamen, haben genauso viele immer noch kein Dach über dem Kopf.

So kam es, dass sich Roy an die verrückte Idee seines Freundes Thierry erinnerte und begann, die Sache ernst zunehmen. Drei Mitglieder braucht es für die Gründung eines Skiverbandes, also bat Roy einen Cousin und einen Freund mitzumachen. Roy ist seither Präsident, Fahrer und einziger Athlet. Thierry, ein entfernter Verwandter der Skirennfahrerin Carole Montillet, die 2002 bei den Olympischen Spielen Gold in der Abfahrt gewann, ist Trainerin, Servicefrau und PR-Beraterin.

Jean-Pierre Roy lernte erst vor ein paar Jahren richtig skizufahren und kommt seither passabel mittelschwere Pisten herunter. Im November begann dann seine Rennläuferkarriere. Er bestritt einige zweit- und drittklassige FIS-Rennen, erreichte das Ziel jeweils als Letzter, sammelte aber genug Punkte, um sich für die WM zu qualifizieren. Am Donnerstag nun will er sich auf der im Vergleich zur Kandahar flacheren Horn-Piste für den Riesenslalom qualifizieren, am Samstag für den Slalom am Sonntag. Die Regeln seien kompliziert, meint Montillet. Es könne durchaus sein, dass Roy als einziger Vertreter eines Exotenlandes selbst dann weiterkomme, wenn er eine kleine Ewigkeit brauche.

Wie gut der Haitianer Ski fährt? "Nicht so gut", sagt seine Trainerin müde lächelnd am späten Samstagabend, als ihr Schützling in einer Disco auf der Bühne neben Super-G-Weltmeister Christof Innerhofer steht, während der Südtiroler für 1000 Euro seine Ski versteigert – zugunsten Erdbebenopfer von Haiti. Ob Roy Angst hat vor seinen Rennen? "Ich will noch nicht darüber nachdenken, aber ich werde bestimmt sehr nervös sein." Er wolle nur ankommen, aber das unbedingt.

Außenseiter aus kleinen Nationen nehmen immer wieder bei sportlichen Großereignissen teil, was die Zuschauer oft unterhaltsam finden, während sich manche Profis, die ihren Sport ernst nehmen, darüber ärgern. Im Fall von Roy ist das offenbar anders. Er habe schon mit Topläufern gesprochen wie dem Schweizer Didier Cuche und Lindsey Vonn aus den USA, erzählt er. "Alle sagen: Toll, dass du das machst."

Jean-Pierre Roy fährt eben nicht nur zum Spaß, sondern hat eine Botschaft: "Ich will zeigen, dass Haiti mehr ist als Elend, Korruption und Cholera und ich weiß, dass mein Land hinter mir steht." "Haiti ist stolz auf Dich", las er neulich in einer Zeitung aus der Heimat; "als ich das gelesen habe, kamen mir die Tränen."